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Ysselsteyn: Hand in Hand gegen das Vergessen

Gedenken und dann handeln – Schulprojekt in Bad Saulgau soll regelmäßig in die Niederlande führen

Was hat das alles mit mir zu tun, könnte man fragen, wenn man 17 Jahre alt ist. Wenn man knapp 600 Kilometer weit fahren musste, um dieses Meer aus grauen Kreuzen zu sehen. Wenn noch nicht einmal Oma und Opa geboren waren, als der Zweite Weltkrieg endete. Jugendliche aus Süddeutschland, die zwischen den Kreuzen in Ysselsteyn stehen, tun das Gegenteil. Sie sagen: „Wir tragen Verantwortung.“
 

Die 17- und 18-Jährigen sind ein Spiegel der Gesellschaft: manche urschwäbisch, andere mit Wurzeln in Ungarn, Russland, Indonesien und Kolumbien, in der Ukraine, der Türkei. Muslime und Christen – evangelisch, katholisch, orthodox. Für eine Woche sind sie in der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. in den Niederlanden zu Gast.

 

Seminarkurs Geschichte 

Sie alle besuchen den Seminarkurs Geschichte am Wirtschaftsgymnasium der Helene-Weber-Schule in Bad Saulgau. Wenn’s gut läuft, können sie damit 2026 eine ihrer Abi-Prüfungen ersetzen.

Auf der einzigen deutschen Kriegsgräberstätte in den Niederlanden, auf der sie jetzt stehen, sind rund 32.000 Tote begraben – einfache Soldaten, Kriegsverbrecher, Zivilisten, Frauen und Kinder.  Auch junge Männer aus ihrer Heimatstadt. Das jüngste Opfer: einen Tag alt, das älteste: 90 Jahre. 32.000 – so viele Menschen hat der Zweite Weltkrieg im Durchschnitt an einem Tag das Leben gekostet. 
 

„Größte Versöhnungsgeste überhaupt“

Das Meer aus Kreuzen reicht bis zum Horizont und nimmt kein Ende, obwohl sie gehen und gehen. „Das ist beeindruckend, dass Deutsche, die so viel Schreckliches getan haben, hier begraben sein dürfen“, sagt Darja. „Es ist die größte Versöhnungsgeste überhaupt“, sagt Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan. 

Mit allen Sinnen nehmen die 20 Jugendlichen wahr, was die Erinnerung an damals heute ausmacht. „Im Tun, im Gehen, in der Natur, über Kunst. Allein, in der Gruppe, mit Begleitung“, zählt Mary Gelder auf. Sie leitet in Bad Saulgau das Stadtarchiv und gehört zur Arbeitsgemeinschaft SLG: „Spuren Lebendig Gemacht”.
 

Museum, Gedenkstätte, Zeitzeugen

Diese AG hat lokale Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in drei Büchern festgehalten und will das Wissen an junge Menschen weitergeben. So entstand der Kontakt zur Schule und zum Volksbund-Landesverband Baden-Württemberg.

Darum begleiten SLG-Aktive die Gruppe nach Ysselsteyn, gestalten das Programm und finanzieren das Ganze aus dem Buchverkauf. Eine der treibenden Kräfte: Conny Scheck aus Bad Saulgau, die seit rund 30 Jahren im niederländischen Kekerdom lebt.
 

Schauplätze des Krieges

Das Programm ist ambitioniert und umfasst Stationen, die mit der „Operation Market Garden" im September 1944 und der „Rheinland-Offensive” im Februar 1945 zu tun haben. Das Freiheitsmuseums und der kanadische Soldatenfriedhof in Groesbeek gehören dazu, das Durchgangs- und Straflager Herzogenbusch (heute Nationaal Monument Kamp Vught), Erinnerungen von Zeitzeugen. Nicht zuletzt: das Verarbeiten der Eindrücke in Worten, in Bildern.

Kleines Licht in der Dunkelheit

„Lebendiger, als Geschichte hier so zu erleben, ist nicht möglich“, sagt Michael Skuppin, Liedermacher aus Bad Saulgau. Auch er begleitet die Gruppe – mit einer Schreibwerkstatt, mit Gedichten und Liedern, die auch an Ort und Stelle entstehen.

Oft aber ist es gerade die Stille, die tiefe Spuren hinterlässt: Wenn sie in der Dämmerung mit Teelichtern durch die Reihen von Kreuzen gehen und eins aussuchen, vor dem das kleine Licht leuchten soll. Wenn sie auf dem kanadischen Friedhof Hunderte Porträts junge Männer auf sich wirken lassen, die 1944/45 ihr Leben für die Befreiung der Niederlande gegeben haben.
 

„Wie konnte es dazu kommen?“

„Ich habe immer dieselbe Frage im Kopf: Wie konnte es dazu kommen?“, sagt Yasin. „Es liegt an uns, aus den Fehlern zu lernen und Verantwortung dafür zu übernehmen, was wir tun – zum Beispiel wenn wir wählen gehen.“

Er ist froh, dass die Familien seiner Eltern in Dörfern in Ungarn und der Türkei nicht unter dem Zweiten Weltkrieg zu leiden hatten, dass er in der Datenbank in Ysselsteyn nicht nach Angehörigen auf diesem Friedhof zu suchen braucht.
 

Niemand wusste von diesem Grab

Anders als Daniel, der sich auf die Suche macht und tatsächlich auf das Grab seines Ururgroßvaters stößt. Niemand in seiner Familie wusste davon. Ihn erschüttert nicht nur das und die enorme Zahl der Toten in Ysselsteyn: „Das hier ist nur ein Bruchstück. Wir sehen nur Ausschnitte. Wir können uns trotzdem nicht vorstellen, wie das wirklich war.“

„Auf ganz anderer Ebene ernst nehmen“

Die Bruchstücke, die Ausschnitte reichen, um das, was sie aus dem Seminarkurs kennen, auf einer ganz anderen Ebene ernst zu nehmen, wie es Sophia ausdrückt.

„Wenn man hier steht, begreift man, wie viele eigentlich gestorben sind. Es wird bewusster auf ganz andere Art“, sagt Simon. „So viele waren kaum älter als wir, das gibt einen ganz bitteren Beigeschmack. Es ist so wichtig, dass wir mit anderen über die Vergangenheit sprechen.“
 

Werte hinterfragen, ins Gespräch kommen

Das hat sich auch Julia vorgenommen: „Wir müssen darüber Bescheid wissen, wie gefährlich Entwicklungen sein können.“ Gerade mit Blick auf die vielen jungen Wähler, die Rechtsextremen ihre Stimme geben, sagt sie: „Wir dürfen sie nicht abstempeln, sondern müssen mit ihnen ins Gespräch kommen. Und wir müssen uns selbst hinterfragen: Was sind meine Werte? Und unser Handeln auch an diesen Werten ausrichten.“

„Die Toten wären vielleicht enttäuscht“

Darja sagt: „Wenn jemand versucht, so etwas nochmal anzuzetteln, müssen wir was dagegen tun. Ich bin für Gleichberechtigung, denn eine Gruppe wird immer leiden, wenn eine andere mit zu viel Macht ausgestattet ist. Das dürfen wir niemals wieder zulassen.“

Noch immer werden Menschen in Kriegs- und Krisengebieten Opfer von Gewalt, von Vergewaltigungen. Ihr Gedanke dazu: „Die Toten hier wären vielleicht enttäuscht, dass es das heute immer noch gibt.“

Lob für erweiterte Perspektive

In der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte hinterlässt die Gruppe diesen Eindruck: sehr motiviert, sehr interessiert, mit einer besonderen Dynamik, so Jan Heemels, der pädagogische Mitarbeiter. Zwei Generationen, die auch die niederländische, die europäische Perspektive in den Blick nehmen – das sei besonders.

Auch Wolfgang Schneiderhan ist beeindruckt. Selbst in Bad Saulgau aufgewachsen, begleitet der Volksbund-Präsident das Buch- und das Schulprojekt und besucht die Gruppe für zwei Tage. „Es ist unglaublich interessant, mit Ihnen hier zu sein. Das ermutigt mich für unser Engagement beim Volksbund und zeigt mir, dass wir richtig liegen mit unserer Arbeit“, sagt er.
 

Projekt an Schule etablieren

Markus Barg-Rothmund möchte, dass sich das wiederholt. Der Lehrer leitet den Seminarkurs und versucht zusammen mit der SLG, ein jährliches Angebot an seiner Schule daraus zu machen. Damit auch andere Jahrgänge, auch Azubis, Haupt- und Realschüler der Helene-Weber-Schule diese Erfahrungen machen können. Der Pädagoge und die Arbeitsgruppe SLG hoffen auf Unterstützung der Kommune und ansässiger Firmen als Sponsoren. Die Chancen stehen gut, heißt es.

 „Hand in Hand”: zum Drohnen-Video

„Wir leben alle hier auf dieser Welt. Alle Menschen sind gleich. Es liegt in unser aller Verantwortung, dass wir die Welt nicht mit neuen Kriegen kaputt machen und jedes Leben so schätzen, wie es ist.“

Yasin (17 Jahre) aus Bad Saulgau

Der Volksbund ist ...

ist ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung Kriegstote im Ausland sucht, birgt und würdig bestattet. Mehr als 10.000 waren es im vergangenen Jahr. Der Volksbund pflegt ihre Gräber in 45 Ländern und betreut Angehörige. Mit seinen Jugend- und Bildungsangeboten erreicht er jährlich rund 38.000 junge Menschen. Bundes- und europaweit ist er ein wichtiger Akteur der Gedenkkultur. Für seine Arbeit ist er dringend auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.
 

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Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.

Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.

Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.

Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.

In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.