Meldung
Meldung
Jüdischer Friedhof Weißensee am Vorabend des 8. Mai: Am Ehrengrab von Herbert Baum skizzierte Martin Bayer, der Volksbund-Landesgeschäftsführer Berlin, in aller Kürze die Biographie des Berliner Kommunisten. Er wurde von den Nazis im Alter von 30 Jahren ermordet. (© Ladan Rezaeian)
Auf den Spuren deutsch-jüdischer Geschichte
Volksbund-Unterstützer besuchen Friedhöfe Weißensee und Halbe
Aus Südwest nach Nordost: 72 Volksbund-Förderinnen und Förderer aus Baden-Württemberg haben anlässlich des 80. Jahrestag des Kriegsendes in Europa Berlin und Brandenburg erkundet. Auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee gedachten sie gemeinsam mit Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan der gefallenen deutschen Soldaten jüdischen Glaubens.
Am Ehrenmal für die Soldaten des Ersten Weltkrieges machte Schneiderhan die große Tragik dieser Gefallenen deutlich: „Rund 100.000 Juden zogen für Deutschland in den Kampf. Sie riskierten für ihr Vaterland ihr Leben – mehr Loyalität geht nicht.“
Verächtlichmachung im Kaiserreich
Doch das Land habe ihnen ihre Opfer nicht gedankt, so Schneiderhan weiter. Juden sei stets mit Misstrauen begegnet worden. „Sie wurden zu Sündenböcken der deutschen Niederlage erklärt.” Diese Verächtlichmachung im Kaiserreich habe, so Schneiderhan, in einer direkten Linie zur Ausgrenzung und zur späteren Vernichtung unter den Nationalsozialisten geführt.
Ein Kaddisch für die Toten
Mit einer Schweigeminute gedachte die große Volksbund-Gruppe aus dem Süden der Republik der jüdischen Soldaten. Rabbiner Boris Ronis sprach das Kaddisch, das Totengebet. Präsident Schneiderhan betonte, dass der Volksbund vieler Opfergruppen beider Kriege gedenke, eben auch der deutschen Soldaten jüdischen Glaubens.
Er sagte das am Vorabend des 8. Mai, an dem traditionell an vielen Stellen der Bundeshauptstadt an die Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert wird – in diesem Jahr auch mit einer Gedenkstunde des neu gewählten Deutschen Bundestages mit Kanzler Friedrich Merz.
Europas größter jüdischer Friedhof
Martin Bayer, Geschäftsführer des Volksbund-Landesverbandes in Berlin, war einer der kompetenten Guides, die die Besucher aus Schwaben über das riesigen Areal in Weißensee führte. Mit einer Größe von 42 Hektar und rund 116.000 Grabstellen gilt es als größter jüdischer Friedhof Europas.
Bayer schaffte es, die Aufmerksamkeit mit der Schilderung spannender Biographien zu wecken. So berichtete er am Grab von Theodor Wolff, bis 1933 Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, von dessen Flucht über die Schweiz bis nach Marseille, wo er in die Fänge von Gestapo-Verbündeten geriet. Wolff starb entkräftet nach seiner Inhaftierung in Berlin.
Honecker und die Schnellstraße
Verblüfft erfuhren die Besucher auch, dass die DDR-Machthaber einst eine Schnellstraße quer durch den Friedhof bauen wollten. Durch eine Eingabe an Honecker konnte Heinz Galinski, der damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde West-Berlins und spätere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, das Vorhaben aber stoppen. Noch heute ist die Schneise auf dem Friedhof zu sehen.
Vorbei an verfallenen Mausoleen, an wunderschön mit steinernen oder gusseisernen Blumen dekorierten Ruhestätten, vorbei auch am Grab von Dr. Arno Philippsthal, der am 3.4.1933 an der Misshandlung durch SA-Schläger verstarb, erreichten die Besucher den Ehrenhain. Dort gedachten sie gemeinsam mit dem Volksbund-Präsidenten aller jüdischen Opfer. Mancher murmelte dabei sichtlich berührt ein leises „Shalom“.
„Menschen wie Du und ich“

Dietlinde Seydel-Röthke ist beeindruckt vor allem von den Soldatengräbern auf dem jüdischen Friedhof. „Das waren Menschen wie Du und ich, die gemeinsam mit allen anderen in den Ersten Weltkrieg gezogen sind.“
Auch die Schicksale in ihrer Familie rückten an einem Ort wie diesem in greifbare Nähe. Die Besucherin aus Bietigheim-Bissingen hat Vater und Onkel im Krieg verloren. Als Flüchtlingskind ist sie der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 nur entkommen, weil die Mutter die Stadt mit ihren Kindern am Morgen verlassen hatte. „Diese Schicksale bewegen mich unheimlich, wenn ich über so einen Friedhof gehe.“
„Treibt einem die Tränen in die Augen”
Bei Karl und Christine Pfluger aus Dettingen hat am Ende der Waldfriedhof Halbe den stärksten Eindruck hinterlassen: „die Menge derer, die so kurz vor dem Kriegsende noch hat sterben müssen. Auch Kinder. Das treibt einem die Tränen in die Augen und man fragt sich: Wie kann der Mensch so weit sinken?“, sagt Karl Pfluger.
Artur Meiners aus Ibach sagt: „Der Volksbund hat meinen Onkel ausfindig gemacht, der in Belarus begraben ist. Das Grab kann ich nicht besuchen. Vor dem Hintergrund hat mich der Waldfriedhof Halbe sehr beeindruckt. Da wird nicht unterschieden zwischen Freund und Feind. Als sie gestorben waren, waren alle gleich. Das ist schon sehr berührend.“
„Rund 100.000 Juden zogen für Deutschland in den Kampf. Sie riskierten für ihr Vaterland ihr Leben – mehr Loyalität geht nicht.“
Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.
Der Volksbund ist ...
… ist ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung Kriegstote im Ausland sucht, birgt und würdig bestattet. Mehr als 10.000 waren es im vergangenen Jahr. Der Volksbund pflegt ihre Gräber in 45 Ländern und betreut Angehörige. Mit seinen Jugend- und Bildungsangeboten erreicht er jährlich rund 38.000 junge Menschen. Für seine Arbeit ist er dringend auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.


Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.
Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.
Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.
Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.