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Wer war Gerhard Stiefel?
Gedanken an ein ungelebtes Leben
Gerhard Stiefel ist für Vorübergehende ein Name auf einem Stolperstein. Doch wer sich mit dem Namen beschäftigt, entdeckt den Menschen und seine Geschichte dahinter. Das haben Mitglieder des Vereins Stolpersteine und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Volksbundes getan.
Heute wäre Gerhard Stiefel 80 Jahre alt geworden. Doch er wurde als Dreijähriger mit seiner Familie wie die allermeisten jüdischen Kasselerinnen und Kasseler von den Nationalsozialisten nach Riga deportiert. Sein genaues Todesdatum wissen wir nicht, aber wir wissen, dass er drei Jahre alt war, als er deportiert wurde.
Sein 80. Geburtstag war Anlass für eine kleine Gedenkfeier an den Stolpersteinen am früheren Grünen Weg 5. Dort hat er vor vielen Jahren gelebt. Heute steht dort die Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes.
Margrit Stiefel, Jürgen Strube und Joachim Boczkowski vom Verein Stolpersteine sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Volksbundes gedachten Gerhard Stiefel und an seim ungelebten Leben. „Was muss in einem dreijährigen Jungen vorgehen, der sein Zuhause verliert und in ein Ghetto verschleppt wird?“ fragte Wolfgang Wieland, Vizepräsident des Volksbundes in seiner Gedenkansprache. 70 Stunden fuhr der Zug von Kassel nach Riga. Dort wurde die fünfköpfige Familie dann getrennt und später ermordet.
Wolfgang Wieland (auf dem Foto zweiter von links) beließ es nicht bei einem Blick in die Vergangenheit. „Wenn mir jemand in den Siebziger Jahren gesagt hätte, dass es wieder offenen Antisemitismus in unserem Land gibt, dass jüdische Kindergärten und Schulen Polizeischutz brauchen, hätte ich das nicht geglaubt.“ Er forderte auf, Stellung zu beziehen und sich gegen Angriffe auf unsere Gedenkkultur zu wehren, ebenso wie gegen einen importierten Antisemitismus. Hier müsse Solidarität gezeigt werden. Der Volksbund habe die Aufgabe, sich für Frieden und gegen Rassismus und Gewalt einzusetzen.
Zwei Musiker aus Göttingen und Kassel begleiteten die Gedenkveranstaltung. Sie spielten und sangen ein Stück von Theodor Kramer von 1938: „And're die das Land so sehr nicht liebten“ und von Hirsch Glick, 1943: Sog nischt kejnmol… Das erste Lied handelt vom Schmerz, die geliebte Heimat verlassen zu müssen und das zweite vom Kampf gegen Unterdrückung und Verfolgung. Wolfgang Wieland legte Blumen an den Stolpersteinen nieder und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legten als zeichen des Gedenkens Holzdavidsterne und -kreuze mit Verigssmeinnicht dazu.
Diane Tempel-Bornett
Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.
Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.
Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.
Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.