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Stolpern, schauen, nachdenken
Kunstprojekt erinnert an Kassels deportierte Juden
Der Volksbund gedenkt der jüdischen Familie Stiefel, die 1941 aus Kassel nach Riga verschleppt wurde. Heute wurden an dem ehemaligen Wohnhaus am Grünen Weg 5 in Kassel fünf Gedenksteine verlegt. Dort hat jetzt die Bundesgeschäftsstelle des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge ihren Sitz.
Kassel, den 28.9. „Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen.“ Dieses Albert-Schweitzer-Zitat passt auch zur Idee der „Stolpersteine“. Der Künstler Gunter Demnig erinnert mit den Gedenksteinen, die er an den ehemaligen Wohnorten verschleppter Jüdinnen und Juden anbringt, an deren Schicksal.
Familie Stiefel war 1941 von Kassel nach Riga deportiert worden, darunter die vierjährige Eva und ihr dreijähriger Bruder Gerhard. Wahrscheinlich gibt es nur weniges, was für Menschen unerträglicher ist als der Tod eines Kindes. Doch davor schreckte der nationalsozialistische Vernichtungswahn nicht zurück.
Die Eltern, Jakob und Amalie Stiefel wurden mit dem 17-jährigen Sohn Werner Michael sowie den kleinen Geschwistern Eva und Gerhard am 9. Dezember 1941 zusammen mit über tausend jüdischen Menschen in einer Kolonne durch die damalige Bahnhofsstraße, die heutige Werner-Hilpert-Straße zum Hauptbahnhof getrieben. Von da aus wurden sie auf einer siebzigstündigen Zugfahrt nach Riga in Lettland deportiert. Dort wurde die Familie getrennt. Ein Überstellungsnachweis der Familie Stiefel in das Ghetto Riga liegt nicht vor. Vermutlich wurden die beiden Männer als Zwangsarbeiter in das Polizeigefängnis und „Arbeitserziehungslager“ Salaspils, 18 km südöstlich von Riga gebracht.
Lebens- und Leidensweg
Das letzte Dokument, das auf Familie Stiefel hinweist, wird in Yad Vashem, in der zentralen Datenbank mit den Namen der Holocaustopfer aufbewahrt. Dort finden sich die folgenden Einträge als letzte Spur der Kasseler Familie: „Jakob Stiefel, Todesort: Salaspils, Lettland, im Jahr 1942. Amalie Stiefel mit den Kindern Eva und Gerhard: deportiert nach Auschwitz am 5. November 1943, ermordet.“ Nur der ältere Sohn Werner Michael überlebte den Holocaust um wenige Monate. Nach seiner Befreiung aus dem KZ Stutthof starb er am 28. September vor 72 Jahren entkräftet und ausgezehrt im Jüdischen Krankenhaus Berlin.
Volksbund ist Mitbegründer des Riga-Komitees
Nun erinnern die Stolpersteine vor der heutigen Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes an die Familie und mahnen vor Hass, Rassismus und Gewalt. Der Volksbund sieht sich hier aus mehreren Gründen in der Verantwortung. Er gehört zu den Mitbegründern des Riga-Komitees, das sich dem Gedenken der nach Riga deportierten Juden widmet. Der zentrale Gedenkort ist dabei die Gräber- und Gedenkstätte Riga-Bikernieki. In den Wäldern dort wurden über 35.000 jüdische Menschen ermordet. Die Felder der eng stehendenden Granitsteine symbolisieren die zusammengekauerten Menschen vor ihrer Ermordung. Auf mehr als 50 polierten Granitsteinen stehen die Namen der Städte, aus denen die Menschen deportiert wurden, so auch Kassel. Insgesamt wurden 1022 Jüdinnen und Juden aus Kassel nach Riga deportiert. Von ihnen überlebten nach heutigem Kenntnisstand höchstens 100. Recherchiert wurde ihr Schicksal von dem Verein Stolpersteine in Kassel e. V., die ihre umfangreichen Ergebnisse unter www.kassel-stolper.com gesammelt haben. In ganz Deutschland sind es etwa 60 000.
Wachsam sein – hinsehen - nachdenken
Für den Volksbund haben die Stolpersteine vor der „Haustür“ eine besondere Bedeutung. „Nicht nur Kriegsgräber mahnen zum Frieden. Auch die Stolpersteine mahnen uns zum Hinsehen und Nachdenken. Wir müssen uns daran erinnern, was geschah. Anfangs waren es Vorurteile und Hetze, dann wurden es Übergriffe und blanke Gewalt und am Ende stand ein unfassbarer Völkermord. Wir müssen wachsam sein. Jede und jeder, der hier steht, muss mit seinen Taten und Worten dafür einstehen, dass solch unsägliches Leid, wie es dieser Familie – wie es unzähligen Familien, wie es Millionen Menschen widerfahren ist, nicht wieder geschehen kann. Immer – und gerade jetzt!“ sagte die Generalsekretärin des Volksbunds, Daniela Schily.
Maurice Bonkat und Diane Tempel
Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.
Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.
Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.
Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.