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Gedenkstele im Wald von Bikernieki
Grauen, das auch nach 80 Jahren nicht vergeht
Am 4. Juli 1941 begann die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Lettland
Der 4. Juli ist in Lettland nationaler Holocaust-Gedenktag. Ein offizieller Gedenkort ist die Ruine der Großen Choral Synagoge in Riga. 1941 wurden hier am 4. Juli jüdische Männer, Frauen und Kinder grausam ermordet. Man hatte sie in diesem Bau eingeschlossen, anschließend die Synagoge in Brand gesetzt. Aber wer war „man“? Dieser Massenmord, begangen durch lettische Kollaborateure, ermöglicht durch die beginnende nationalsozialistische Besatzung, war nach den Schikanen und Repressalien der Auftakt zu einer hemmungslosen Vernichtung.
Neben der Ruine der Synagoge steht das Denkmal für die „Judenretter“, lettische Bürger, die in den dreieinhalb Jahren der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Juden beschützt und gerettet haben. Die weißen Säulen, die sich gegen eine erdrückende Wand auflehnen, symbolisieren den Widerstand. Der prominenteste von ihnen, der Hafenarbeiter Žanis Lipke , baute einen Erdbunker, in dem er zwischen 1941 und 1944 fast 50 Juden nach und nach verstecken und ihnen so Zuflucht gewähren konnte.
Die heutige Gräber- und Gedenkstätte Bikernieki war vor 80 Jahren Schauplatz von massenhaften Erschießungen in den Wäldern um Riga. Der Aufschrei des Hiob: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht und mein Schreien finde keine Ruhestatt“ ist auf schwarzen Stein gemeißelt. Für das, was hier geschah, finden sich kaum passendere Worte. Die Felder eng aneinander stehender Granitsteine symbolisieren die zusammengekauerten Menschen vor ihrer Ermordung. Auf mehr als 50 polierten Granitsteinen stehen die Namen der Städte, aus denen die Menschen deportiert wurden: Berlin, Bielefeld, Bremen, Dortmund, Hamburg, Hannover, Kassel …
Auf dem alten jüdischen Friedhof findet man nur vereinzelt noch Reste von Grabsteinen und das auch nur, wenn man sehr genau hinsieht. Die vor einigen Jahren aufgestellten steinernen Thorarollen weisen darauf hin, dass hier der Eingang zum einstigen jüdischen Friedhof war. Zum Gedenktag werden Jahr für Jahr Blumen niedergelegt.
Junges Land, wechselvolle Geschichte
Riga ist eine europäische Stadt mit einer wechselvollen Geschichte, in der eine multikulturelle Gesellschaft lebt – und mit einer speziellen Erinnerungskultur. Lettland ist ein sehr junges Land, gegründet 1918. Im Jahr 1940 wurde es von der Sowjetunion okkupiert, 1941 von den deutschen Truppen eingenommen und dann wieder von der Sowjetunion besetzt. Mit der „Sowjetisierung“ ab 1944 wurde die Geschichtsschreibung definiert und vorgeschrieben. 1989 bis 1991 erkämpfte und erlangte Lettland die Souveränität. Berühmt wurde die rund 650 Kilometer lange Menschenkette, die die Hauptstädte der drei baltischen Staaten verband und an der knapp zwei Millionen Menschen teilnahmen.
Inzwischen haben sich die Bevölkerungsanteile in Lettland allerdings verschoben. Während 1935 rund 60 Prozent der Bevölkerung in Riga ethnisch-lettischen Ursprungs waren und der Anteil der Russen keine zehn Prozent betrug, so halten sich heute der russische Bevölkerungsanteil und der ethnisch-lettische Anteil in Riga die Waage, während in Lettland das Verhältnis zwei Drittel zu ein Viertel zugunsten der ethnisch-lettischen Bevölkerung ist.
Seit einigen Jahren wird Riga von einem russischstämmigen Bürgermeister regiert. Wie geht die kleine, selbstbewusste Nation mit ihren „Minderheiten“ um? Wie sieht ihre Erinnerungskultur aus?
Milda, die lettischen Freiheitsstatue
Zu einem offiziellen Besuch von Lettland gehört der Besuch des Freiheitsdenkmals, das die nationale Souveränität Lettlands darstellt. Es wurde 1935 aufgestellt – am selben Platz hatte zuvor ein Reiterdenkmal Peter des Großen gestanden. Im Sockel werden symbolische Figuren dargestellt: die Wächter des Vaterlandes, die Mutter der Familie, ein Bärenbezwinger, Figuren, die ihre Ketten zerreißen, die Kultur und die Wissenschaft. Hoch oben auf dem Obelisken steht eine kupferne Frauenfigur und hält über ihren Kopf drei Sterne, die für die kulturhistorischen Regionen Lettlands stehen: Kurland, Livland, Lettgallen. Sehenswert ist hier auch die Wachablösung der Ehrenwache vor dem Freiheitsdenkmal.
Die Arme sind offen, doch ….
Die Letten würden sich zu allererst als Opfer der Sowjetherrschaft fühlen und nicht als Opfer der Nationalsozialisten. Die lettische Schuld sei kaum ein Thema, so erklärte 2017 Margers Vestermanis, damals über 90-jähriger Überlebender der Pogrome und Professor der Geschichte die Erinnerungskultur der lettischen Gesellschaft. Im offiziellen Geschichtsverständnis der Sowjetunion habe es keinen Platz für den Holocaust gegeben. Es durfte nicht sein, dass eine Volksgruppe mehr als andere gelitten habe. Alle seien Opfer des Faschismus gewesen.
Deshalb durfte auf den Gräbern auch nicht stehen, dass die Toten jüdische Zivilisten waren. Das Verhältnis sei immer noch schwierig, so Vestermanis und erklärte es mit einer Metapher bezihungsweise einem russischen Sprichwort: wenn einer die Arme zwar offen, aber in der Achselhöhle doch noch einen Stein habe.
Der Bahnhof Skiratova steht für die Deportationen in beide Richtungen: aus dem ehemaligen deutschen Reichsgebiet nach Riga und sowohl vorher als auch später von Riga aus Richtung Osten nach Sibirien. Im ehemaligen Konzentrationslager Jungfernhof erinnern nur ein paar wenige Ruinen mit Einschusslöchern an das, was dort geschah. Von 4.000 jüdischen Insassen überlebten 148. Heute ist hier ein Naherholungsgebiet mit Angelteich, Springbrunnen und Fahrradweg angelegt.
„Hinter diesem Tor stöhnt die Erde“
Die aus sowjetischer Zeit stammende Gedenkstätte des einstigen Lagers Salaspils wurde 1966/67 errichtet. Von 1941 bis 1944 waren dort schätzungsweise 12.000 Menschen interniert. Genaue Zahlen können kaum recherchiert werden. „Hinter diesem Tor stöhnt die Erde“ wäre die deutsche Übersetzung der Inschrift auf der massiven Betonwand vor dem Eingang. Die Gedenkstätte beeindruckt durch die gigantischen symbolischen Steinfiguren und einen schwarzen Gedenkstein, in dem ein Metronom schlägt.
Das rhythmische Schlagen ist über den ganzen Platz zu hören und erinnert an einen Herzschlag. Hier waren unter anderem auch über 1.000 Kinder und Jugendliche als „Bandenkinder“ inhaftiert. Der Gedenkstein ist von Heckenrosen umsäumt, Besucherinnen und Besucher legen kleine Spielsachen darauf.
Im Wald von Rumbula wurden am 30. November und am ersten Dezemberwochenende des Jahres 1941 rund 27.500 Menschen, die einheimische jüdische Bevölkerung Rigas, ermordet. Auf dem zentralen Gedenkplatz stehen eine Menorah und Granitsteine mit den Namen der getöteten Familien. Ein Ort der Trauer.

Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.
Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.
Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.
Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.