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Gedenken an die Pogromnacht in Kassel

Jüdische Gemeinde, Stadt Kassel und Volksbund erinnern gemeinsam an Opfer des Nationalsozialismus.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 steckten die Nationalsozialisten in Deutschland hunderte Synagogen in Brand. Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört und Friedhöfe geschändet. Die Pogromnacht gilt als Auftakt zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Viele Juden wurden verschleppt und ermordet. So auch in Kassel. Hier flogen bereits am 7. November, also zwei Tage früher, die ersten Steine gegen die damals knapp 100 Jahre alte Synagoge der Jüdischen Gemeinde in der Unteren Königsstraße.

Die Jüdische Gemeinde, die Stadt Kassel und eine Delegation des Volksbundes um Generalsekretärin Daniela Schily gedachten am Mahnmal auf dem alten jüdischen Friedhof in Kassel gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus.  

 

Bereits im Mai 1933 hatten mit der Bücherverbrennung unliebsame Autoren, darunter Juden, Kommunisten, Pazifisten und andere unliebsame Denker ihr Recht verloren, die Stimme zu erheben. Später folgten Berufsverbote, die dem Leben vieler Deutscher auch materiell den Boden entzogen. Mit den Nürnbergern Gesetzen war Antisemitismus fortan nicht nur legal, sondern gesetzlich verordnet. Innerhalb von nur fünf Jahren waren den jüdischen Staatsbürgerinnen – und Staatsbürgern alle Rechte genommen worden.

„Deshalb und mit alldem was danach noch folgte“, so Stadtrat Dirk Stochla in seiner Rede,
„trauern wir heute um die vielen Opfer jeden Alters. Wir wissen heute, wohin Hass, Hetze, Lügen, Diskriminierung und Rassenwahn führen können.“
Den Holocaust als historische Tatsache in seinem vollen Ausmaß und Dimension anzuerkennen, gehöre heute genauso zur Bundesrepublik Deutschland wie eine gute Beziehung zum Staat Israel, so Stochla. „Doch, in einem darf man sich sicherlich nicht irren. Endgültig überwunden sind Antisemitismus und völkischer Irrglaube sicherlich nicht. Das schreckliche Verbrechen von Halle hat uns das allen nochmal deutlich vor Augen geführt. Terrorismus, der ein Klima der Angst schaffen und Hetze, die ausgrenzen und vereinzeln will – sie dürfen keinen Erfolg haben.“

Der SPD-Politiker forderte weiter: „Wir müssen alle in unserem persönlichen Umfeld, in den sozialen Medien, aber auch im öffentlichen Raum für unsere Werte einstehen. […] „Die Toten mahnen uns, dass wir uns unserer Verantwortung stellen und auch wahrnehmen. Das wollen wir uns heute anlässlich dieses Tages gemeinsam versprechen.“

„Antisemitische Haltungen dürfen nicht salonfähig werden!“

Für Barbara Heinrich, Dekanin im evangelischen Stadtkirchenkreis, ist das Gedenken an die jüdischen Opfer ebenfalls nicht nur ein Lippenbekenntnis. Zum Video-Statement 

 

Heinrich sagte auf der Gedenkfeier: „Es war ein grausamer Höhepunkt auf dem immer deutlicher werdenden Weg, alles jüdische Leben, alle jüdische Kultur in Deutschland zu vernichten. In dieser Nacht leistete niemand Widerstand. Viele schauten weg oder machten gar nichts. Das galt auch für die Mitglieder von Kirchengemeinden und das bekennen wir mit Scham. Viele Jahre schon kommen wir am 7. November hier zusammen, wir gedenken und verpflichten uns immer wieder neu, dass so etwas in Deutschland nie wieder passieren darf. Seit vielen Jahren erkennen wir immer wieder auch, wie antisemitische Haltungen wieder gesprächs- und salonfähig werden, nicht nur am politischen Rand unserer Gesellschaft. Menschen jüdischen Glaubens haben wieder Angst sich als Jüdinnen und Juden zu zeigen und ich finde es beschämend für unser Land, dass es Empfehlungen gibt, lieber keine Kippa zu tragen.“ 

 

Esther Hass, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde ergänzte: „Was meinen Sie, wie es sich anfühlt, nur unter Polizeischutz einen Gottesdienst ausführen zu können.“ Shaul Nekrich, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde, sprach zum Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Anschluss an die Kranzniederlegung zwei Gebete.

 

Deportationen in Kassel – Wer war Gerhard Stiefel?  

Rund 1.000 Juden aus Kassel wurden damals deportiert. Darunter auch die Familie Stiefel. Gerhard Stiefel wäre heute 81 Jahre alt. Doch er wurde als Dreijähriger mit seiner Familie wie die allermeisten jüdischen Kasselerinnen und Kasseler von den Nationalsozialisten nach Riga verschleppt. 1943 wurde er in Auschwitz ermordet. Mehr zur Geschichte der Familie Stiefel

 

Mehr zum Thema:

Ein Zeitzeuge erzählt: Video der HNA zur Pogromnacht in Kassel 

Zur Website der Jüdischen Gemeinde

 

Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.

Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.

Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.

Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.

In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.