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Empfang und Ausstellungseröffnung am Rheinufer zum Jubiläum des Deutschen Riga-Komitees, dem allein aus Nordrhein-Westfalen mehr als 50 Städte angehören. Am Rednerpult: Thomas Kutschaty, Vorsitzender des Volksbund-Landesverbandes. (© Landtag NRW / Bernd Schälte)
25 Jahre Riga-Komitee: „Mein Großvater, der Täter“
Lorenz Hemicker, Journalist und Autor, hält Festvortrag bei Empfang im Landtag in Düsseldorf
Beihilfe zum Mord in mehr als 25.000 Fällen lautete die Anklage, aber Ernst Hemicker wurde nie bestraft. „Ich weiß jetzt, wie er zum Nazi wurde“ – zum „Totengräber von Rumbula“, sagt sein Enkel, Lorenz Hemicker. Der FAZ-Redakteur und Buchautor forderte, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter in den Blick zu nehmen, und nannte das Riga-Komitee ein „leuchtendes Beispiel” der Erinnerungskultur.
80 Städte sind inzwischen in diesem europaweit einzigartigen erinnerungskulturellen Bündnis vereint, darunter Brünn, Prag, Riga, Theresienstadt und Wien. Es erinnert an die Jüdinnen und Juden, die 1941/42 nach Riga deportiert worden waren. Die meisten wurden dort ermordet. Vom „größten Massengrab in Lettland” im Wald von Bikernieki sprach Landtagspräsident André Kuper beim Empfang in Düsseldorf 25 Jahre nach der Gründung des Komitees.
Gruben geplant für Erschießungen

SS-Untersturmführer Ernst Hemicker hatte als Tiefbauingenieur Gruben für die Massenerschießungen in Rumbula geplant – einem zweiten Hinrichtungsort in Riga – und bei der Ermordung von Jüdinnen und Juden Aufsicht geführt. Er war dabei, als am Rigaer „Blutsonntag”, am 30. November 1941, zwischen 13.000 und 15.000 lettische Jüdinnen und Juden ermordet wurden.
Sein Enkel hat ein Buch über ihn geschrieben: „Mein Großvater, der Täter“. „Ich hatte gehofft, dass er ein guter Mensch war. Dass er da hineingeraten ist irgendwie.“ Aber: Der Großvater war überzeugt sowohl vom Nationalsozialismus als auch von der „Endlösung der Judenfrage“.
„Ein Jedermann kann zum Täter werden”
Der Journalist will zeigen, „wie ein Jedermann zum Täter werden kann”. Und dabei die Mechanismen offenlegen, die solche Verbrechen erst möglich machen. „Die Guten können zu Bösen werden. Beides existiert in einer Person und das ist das Gefährliche,“ so Hemicker im anschließenden Gespräch.
„Darum brauchen wir auch beides: die Geschichten der Opfer und die der Täter.” Nur durch die Zusammenschau ergebe sich das Bild, das nötig sei, um wirklich zu verstehen, was den Holocaust ermöglichte.
„Erinnerung wird neu definiert”
Gerade würde die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust neu definiert. „Die Gefahr, dass all das, was wir für bewahrenswert halten, von Extremisten, Faktenleugnern und Faschisten mit Füßen getreten wird, ist real“, warnt der Autor. „Wir müssen das Wissen in die nächste Generation tragen. Wenn wir die Lektionen aus unserer Geschichte verlernen, drohen unsere Nachkommen in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der Fremdenhass, Antisemitismus und Deportationen wieder an der Tagesordnung sind.”
Erinnerung müsse betroffen machen, indem sie persönlich wird, so Hemicker – zum Beispiel mit Biographien wie der seines Großvaters. Und an die Schülerinnen und Schüler im Publikum gewandt sagte er: „Ihr seid diejenigen, die damit etwas anfangen sollen. Auf Euch kommt es an!“
(Vortrag im Wortlaut)
Lokales und internationales Bündnis
Für Lorenz Hemicker ist das Riga-Komitee ein „leuchtendes Beispiel dafür, wie Erinnerungskultur gelebt werden kann“. Ein lokales wie internationales Bündnis, betonte Thomas Kutschaty, Vorsitzender des Volksbund-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen. Der Volksbund hatte das Komitee initiiert und ist heute noch federführend. „In den Städten erinnern Ehrenamtliche, lokale Politik und Verwaltung gemeinsam an konkrete Personen“, so Kutschaty und böten damit auch eine hervorragende Lernplattform.
Landtagspräsident André Kuper hatte zuvor die Ausstellung „Riga: Deportationen – Tatorte – Erinnerungskultur“ im Foyer eröffnet und rund 70 Gäste begrüßt: Abgeordnete und Fraktionsvorsitzende, Stadtspitzen und Gemeinderäte sowie aus Wien Daniel Löcker und aus Riga Edgars Ikstens. Auch Anna Katharina Bölling, Regierungspräsidentin in Detmold, ihr Amtskollege, Andreas Bothe aus Münster und der Kasseler Oberbürgermeister Dr. Sven Schoeller nahmen am Empfang teil. Der Volksbund ist mit seiner Bundesgeschäftsstelle in Kassel zu Hause.
Dank für Offenheit von Zeitzeugen

Stefan Dworak zeichnete Entstehung und Entwicklung des Riga-Komitees nach, an dem er als Mitinitiator maßgeblich beteiligt war. Er sei dankbar für die herzliche Gastfreundschaft in Riga, die Offenheit der Zeitzeugen, „vor allem aber für die Bereitschaft aller Beteiligten, gemeinsam aus der Geschichte zu lernen und alles dafür zu tun, dass sich die damaligen schrecklichen Verbrechen niemals wiederholen.”
Das Komitee und die von ihm errichtete Gräber- und Gedenkstätte Bikernieki seien Meilensteine der Erinnerungs- und Gedenkkultur, so Dworak weiter, aber auch „wunderbare Projekte, die hoffentlich auch zukünftig viele Menschen verschiedener Nationen, Kulturen und Religionen auf einzigartige Weise zusammenbringen und zum gemeinsamen Austausch einladen” (Rede im Wortlaut).
„Wir setzen ein Zeichen”
Als Bildungspartner ist die Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen eng mit dem Volksbund und dem Riga-Komitee verbunden. Lehrer Patrick Hoffmann-Schmitt stellte das Geschichtsprojekt vor, das ihn und seine Schülerinnen und Schüler Jahr für Jahr nach Riga führt – zur Gedenkveranstaltung am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag.
In Düsseldorf stelle eine Gruppe der Schule Gedichte von ermordeten Dichterinnen und Dichtern vor. Stellvertretend für alle, die dafür ans Mikrofon traten, sagte Samet: „Wir setzen damit ein Zeichen und zeigen, dass auch wir jungen Menschen daran denken, was in Riga passiert ist.”
Mehr lesen:
Zum Jubiläum: 25 Jahre Riga-Komitee: deportiert, ermordet, unvergessen
Drei Fragen an Stefan Dworak: 80 Städte halten Erinnerung an Deportationen nach Riga wach
www.riga-komitee.eu
Der Volksbund ist …
… ist ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung Kriegstote im Ausland sucht, birgt und würdig bestattet. Mehr als 10.000 waren es im vergangenen Jahr. Der Volksbund pflegt ihre Gräber in 45 Ländern und betreut Angehörige. Mit seinen Jugend- und Bildungsangeboten erreicht er jährlich rund 38.000 junge Menschen. Bundes- und europaweit ist er ein wichtiger Akteur der Gedenkkultur. Für seine Arbeit ist er dringend auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.

Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch einen Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.
Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.
Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.
Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet.